Ich habe das Bedürfnis, meine Lieblingsstiefel noch ein letztes Mal reparieren zu lassen, bevor sie dann den Weg allen irdischen gehen müssen. Fast zehn Jahre habe ich sie durch die – allerdings relativ kurzen Winter Andalusiens – getragen, und nun ist es soweit: Die Ledersohle hat sich gelöst und die feuchten Regentage sind noch nicht ganz vorbei. Wo finde ich jetzt in Tarifa einen Schuster?
Ratlose Mienen bei spanischen Bekannten und Freunden. Maria meint schon mal einen gesehen zu haben, irgendwo in der Nähe der Tankstelle, ich soll mich einfach mal durchfragen. Isabel macht gleich einen Rundruf in ihrem Freundeskreis, Marta rät mir die alten Treter in den Müll zu werfen. Nein, ich will meine alten Stiefel weitertragen! Ich nehme das jetzt mal in die Hand!
Ich habe Zeit und mache mich auf den Weg ins Pueblo. An der Tankstelle beginne ich meine Fragerunde. Schuster, also das gibt es nicht in Tarifa, allenfalls in Algeciras bei Mr. Minute im Carrefour Supermarkt, ist die einhellige Antwort. Nicht aufgeben. Ich schlendere mit meiner Tüte weiter, frage bei meinem Gemüsehändler, was ein langes Palaver zwischen allen Kunden, des Gemüsehändlers, der gerade mit einer Steige Obst hereinkommt und den Verkäuferinnen auslöst. Einig ist man sich schnell: Es gibt ihn, eine Frau will ihn sogar schon mal gesehen haben. Aber wo? Das weiß dann keiner.
Ich wandere mit meiner Tüte weiter und frage in meiner Lieblings Boutique nach diesem geheimnisvollen Schuster. Claro que si! gibt es ihn! Und zwar ganz in der Nähe, auf der anderen Straßenseite, vorbei wieder am Gemüseladen, erste oder zweite rechts, oder war es links? Egal ich kann ihn nicht verpassen, immer dem Geruch nach soll ich gehen, es stinkt nach Katzen, weil er sämtliche Exemplare in dieser Gegend füttert. Ich mache mich auf den Weg. Nach längerem umherirren erreicht meine Nase endlich so etwas wie leichten Raubiergeruch, der von rechts kommt. Ein winziger Kiosk ist zu sehen, rundherum belagert von Katzen aller Größen und Farben. Es stinkt in der Tat erbärmlich und auf den diversen Blechtellern voller Katzenfutter tummeln sich Dutzende blauschillernder Fliegen. Hurra, ich bin angekommen, ich werde ihm meine Stiefel aus fünf Metern Entfernung auf den Tresen werfen und diese dann in einer Woche frisch besohlt wieder abholen. Er winkt mich jedoch freundlich heran, und ich kann einen Blick in das innere des Kiosks werfen. Zwischen wahllos hingeworfenen Schuhen, lagern weitere tausend Katzen und der unsägliche Gestank von Exkrementen und vergammelten Katzenfutter, lassen mich an Flucht denken. Ich wage nicht zu atmen, halte nur die Stiefel hoch und zeige auf die durchgelaufene Sohle. Er schüttelt bedauernd den Kopf und grinst ein zahnloses Lachen. Nein, also, nein. Er repariert nur Damenschuhe. Ich zeige auf mich und weise ihn darauf hin, dass ein solches Exemplar vor ihm steht. Nein, anscheinend verstehe ich die Problematik nicht. Er beugt sich hinunter und zieht ein Modell Stiletto hervor und deutet auf den winzigen Absatz. Das sind Damenschuhe! Leider weiß er auch keinen Ausweg aus meinem Dilemma. Zwanzig Meter weiter lasse ich die angestaute Luft aus meinen pochenden Lungen und atme tief Frischluft ein.
Weiter gehts. Ich frage hier und da, und bei der Bank gibt man mir den Rat, es mal bei der Polizei zu versuchen. Ein blendender Gedanke. Ich schlendere durch den alten Teil des wunderschönen Ortes und steige nahe der Burg die steile Treppe zum Rathaus empor. Hier ist auch die Polizei untergebracht und ich bringe mein Anliegen vor. Ratlose Gesichter. Ein älterer Polizist ruft sogar seine Frau zuhause an, leider auch ohne Erfolg. Einig sind sie sich auch hier: Es muss ihn geben! Nochmals wird beratschlagt, die Hilfsbereitschaft ist unbeschreiblich. Die Sekretärin des Bürgermeisters, gerade auf dem Weg zum Frühstück, wird ebenfalls befragt. Und nach einem „claro que si“! folgt erstmalig der Name des geheimnisvollen Schusters: Juan Cacao. Aber wo genau er wohne, das wisse sie nicht, aber nicht allzu weit von hier. Einen Schritt weiter! Ein Beamter rät mir runter zu dem kleinen Lebensmittelladen zu gehen. Pepe, der Inhaber, der kenne alle Leute die hier in der Nähe wohnten. Nach mehreren „muchísimas gracias, muy amable“, bin ich bei inzwischen sengender Sonne, wieder in den engen Gassen Tarifas unterwegs.
Bei Pepe muss ich mich erst durch mehrere Jamon- und Käsesorten essen, und einen super leckeren Fino probieren, auch gern zwei, bis ich mein Anliegen vorbringen kann. Ja, natürlich kennt er Juan Cacao, ob der jedoch noch als Schuster tätig ist, weiß er nicht so genau. Aber wenn ich gleich hinter seinem Laden die Straße Richtung Stadt nehmen würde, da sei so eine Siedlung von Arbeiterhäuschen die alle gleich aussehen, da ist es entweder die Nummer einundzwanzig oder hunderteinundzwanzig. Aber ich soll einfach fragen. Besito links und rechts und weiter gehts. Leicht benebelt, denn ein dritter Fino wurde es dann noch, stelle ich fest, dass ich die Tüte mit den Stiefeln bei Pepe habe stehen lassen. Schnell zurück – der Laden ist schon zu. Dann kann ich auch gleich was essen gehen und schlendere zurück ins Städtchen. Schnell gewöhnt man sich hier einen gewissen Schlendrian an, den ich ehrlich gesagt, ganz gut annehmen kann. Gegen fünf stehe ich wieder vor Pepes Laden. Ist noch geschlossen. Um zwanzig nach fünf kommt er um die Ecke und holt seinen Schlüsselbund hervor. Vorzüglich habe er gerade gegessen, Rabo hat seine Frau gekocht, ein andalusisches Ochsenschwanzgericht. Ob ich noch einen fino wolle? Auf keinen Fall will ich das, und verabschiede mich mit meiner Tüte in der Hand.
Jetzt heißt es nur noch diesen Juan Cacao zu finden. Kann ja nicht so schwer sein. Nummer einundzwanzig ist es nicht, also weiter, vorbei an all den völlig identisch aussehenden Häuschen. Ich stehe vor der Nummer hunderteinundzwanzig und läute. Nichts. Also das jetzt bitte nicht, nach dieser stundenlagen Sucherei! Endlich schlurfende Schritte, durch den geöffneten Türspalt schaut mir ein mürrisches Frauengesicht entgegen. Ist das das Haus vom Schuster Juan Cacao? Möchte ich wissen. Die Frau belehrt mich, dass der Meister Siesta halte und keinesfalls gestört werden dürfe. Ob ich denn meine Stiefel hierlassen kann zum besohlen, ist mein Anliegen. Vor Ostern könne ich gar nichts erwarten, der Meister hätte zu viel zu tun. Nun denn, bis dahin brauche ich sie wohl dann nicht mehr, dann sind sie eben fertig für die nächste Regenzeit.
Mehre Wochen nach Ostern bin ich wieder in der Gegend. Ich läute. Wieder lange nichts, dann wird die Tür geöffnet. Der Meister persönlich! Sieht etwas verschlafen aus der Gute. Ich frage nach meinen Stiefeln. Welche Stiefel? Er hat so viele Schuhe in seiner Werkstatt, kann sich nicht erinnern. Ich helfe ihm auf die Sprünge, erkläre ihm, dass ich sie lange vor Ostern seiner Frau gegeben hatte. Er verschwindet für gefühlte Stunden und kehrt mit einem Arm voller Stiefel zurück. Ich entdecke meine ganz unten und will sie rausziehen. Aber so geht das nicht, Meister Cacao muss erst wissen, was daran gemacht werden soll. Was offensichtlicheres gibt es eigentlich nicht, da die Sohle nur noch halb am Schuh hängt, aber ich versuche höflich zu bleiben und mein Erstaunen darüber zu verbergen, dass sie noch nicht repariert sind. Natürlich sind sie nicht repariert, werde ich belehrt, denn wenn jeder einfach so seine Schuhe abgeben, und nicht mehr abholen würde, da säße er auf diesen ganzen Galoschen fest. Ich schlage ihm vor, doch von den Kunden das Geld im voraus zu kassieren, das würde doch das Problem lösen. Die Idee gefällt ihm sichtlich, und er fordert umgehend dreißig Euro von mir ein. Eines Tages waren sie dann wirklich fertig und ich laufe heute noch auf den Ledersohlen von Juan Cacao.